Transkulturelle Kompetenz

Unser Verständnis von transkultureller Kompetenz

Einer der zentralen Aspekte beim Erwerb von transkultureller Kompetenz ist die Reflexion über die Annahmen, Bilder und Stereotype, die wir als Behandler*innen im Umgang mit Menschen mit Zuwanderungs- und Fluchtgeschichte im Rahmen

der professionellen Versorgung haben. Durch transkulturelle Kompetenz soll die hohe Gefahr der „Kulturalisierung“ (d. h. der Überbetonung kultureller Merkmale und eine damit einhergehende Vernachlässigung individueller soziobiografischer Prägungen) reduziert werden. Die als kulturell / kulturimmanent gedeuteten Wahrnehmungen in der Begegnung mit als „fremd“ gelesenen Personen können dazu verleiten, allfällige Abweichungen in der Beziehungsgestaltung und im Heilungsprozess vorschnell und ausschließlich vor dem kulturellen Hintergrund dieser Person zu deuten. Unzureichende Diagnostik, fehlende individuelle Behandlungsplanung und unbefriedigende Behandlungserfolge sind oft die Folgen von nicht vorhandener transkulturellen Kompetenz. 

Umgang mit Sprachbarrieren

Sprachliche Einschränkungen  stellt eines der Haupthindernisse für einen chancengleichen Zugang zur medizinischen Behandlung dar. Obwohl für den Abbau von Sprachbarrieren mehrere praktikable Lösungsmöglichkeiten existieren, wird auf diese von Seiten der Fachkräfte im Gesundheitswesen häufig nicht oder nur zögerlich zurückgegriffen, wenn die Behandlung in einer anderen Sprache als Deutsch erfolgen soll bzw. muss.

Geeignete Möglichkeiten zur Überwindung von Sprachbarrieren sind:

  • Der Einsatz von geschulten Sprach- und Integrationsmittler*innen (SIM) bzw. Dolmetscher*innen. Dieser stellt die Verständigung sicher, und  sprachliche wie soziokulturelle Missverständnisse werden vermeiden. Allerdings sollten Fachkräfte, die SIM für die Behandlung ihrer Patient*innen hinzuziehen, für dieses spezielle Setting geschult werden.
  • Der gezielter Einsatz von muttersprachlichem Fachpersonal. Dieser ermöglicht ein sprachgenaues Verständnis des jeweiligen kulturellen Hintergrunds sowie ein effizientes und professionelles Vorgehen. Allerdings ist es wichtig zu beachten, dass muttersprachlich tätige Kolleg*innen  mit hohen Erwartungen von Patient*innen an ihre „Landsleute“ konfrontiert werden können. Überhöhte Verantwortungsübernahme, komplizierte Übertragungs- und Gegenübetragungsphänomene oder Abgrenzungsschwierigkeiten können die Folge sein. Es empfiehlt sich daher eine spezifische Supervision für muttersprachlich arbeitende Fachkräfte im transkulturellen Setting. 
  • Das Nutzen von Drittsprachen. Dabei müssen die Sprachkenntnisse auf beiden Seiten nicht perfekt sein müssen. Ein erster Kontakt, eine orientierende Klärung der Problemlage sowie das Erfragen von Grundlagen der Anamnese können durch eine bewusst einfache Sprachgestaltung und die Möglichkeit des Nachfragens gut gelingen und auf diese Weise  die strukturell bedingte Machtasymmetrie zwischen Behandler*in und Patient*in reduzieren und einen fruchtbaren Behandlungsprozess anstoßen.
  • Der Einsatz von Sprachhilfen, wie beispielsweise Informationsmaterialien in verschiedenen Sprachen. Diese unterstützen die Patient*innen dabei, sich vorab einen Überblick über Symptomatik, Behandlungsangebote, Ablauf der Therapie und anderes mehr zu verschaffen. Screenings in verschiedenen Sprachen vermeiden Missverständnisse in der Kommunikation und ermöglichen eine adäquate Diagnostik. Auch Internetseiten/ Apps können nützlich sein und die (klinische) Alltagsgestaltung entscheidend erleichtern. Innerhalb der Therapie können  „sprachneutrale“ Therapiematerialien wie zum Beispiel eine Körperkarte zur Anamnese der Regionen körperlicher Beschwerden die Verständigung unterstützen.

Anforderungen an Behandlungskonzepte

Bei der Behandlung von psychisch und psychosomatisch erkrankten Menschen mit Zuwanderungs- und Fluchtgeschichte haben sich in der Praxis transkulturelle Konzepte und Modelle bewährt, die zeitgleich medizinische, psychologische, kulturelle, aber auch sozioökonomische und gesellschaftliche Aspekte von Flucht und Migration und deren Auswirkungen auf Gesundheit und Inanspruchnahmeverhalten berücksichtigen. Die Reduzierung bzw. Fokussierung auf einzelne Aspekte wie beispielsweise Kultur ist inzwischen obsolet. Die Konzeption derart ausgerichteter Angebote beinhaltet auch die prozesshafte Klärung von Begrifflichkeiten in Bezug auf die Zielgruppe und Handlungsfelder, zum Beispiel inter- vs. transkulturelle Angebote, Migrant*innen vs. Geflüchtete, mehrsprachig vs. fremdsprachig. Diese sind stets als Erkenntnisstand zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verstehen und unterliegen fortlaufenden Veränderungsprozessen. An der Planung der Konzepte sollten Personen mit verschiedenen Erfahrungshintergründen (unterschiedliche Professionen, Herkunft, Identitäten) beteiligt sein. Auch der Einbezug von Patienten*innen- und Angehörigenwissen im Sinne eines trialogischen Diskurses soll zunehmend zum Standard werden.

Erforderlich ist also ein modernes Verständnis von transkultureller Medizin und ihren multiperspektivischen und ganzheitlichen Zugängen.

Zu den Strategien einer konzeptionellen Verbesserung der transkulturellen gesundheitlichen Versorgung gehören unter anderem:

  • Selbstverständlichkeit im Abbau von Sprachbarrieren
  • Leitlinienorientierte Diagnostik und Behandlung unter Berücksichtigung wissenschaftlich fundierten zielgruppenorientierten Modifikationen 
  • Sicherstellung des ganzheitlichen bio-psycho-sozialen Vorgehens und der klinischen Sorgfalt
  • speziell konzipierte, sprachreduzierte Angeboten
  • traumaspezifische Angebote
  • zielgruppenorientierte psychopharmakologische Beratung
  • kontinuierliche Förderung des transkulturellen Kompetenzerwerbes der Mitarbeitenden
  • Supervision der Team- und Strukturentwicklungsprozesse
  • stressmindernde institutionelle Rahmenbedingungen (z.B. kultur-, sprach-, vielfalt- und diskriminierungssensible Ausrichtung der Anmeldesituation)

Gesundheit und Gerechtigkeit

Sozial bedingte Ungleichheiten im Hinblick auf den Zugang zu Gesundheit und Medizin sind in den westlichen Gesellschaften seit der frühen Industrialisierung beobachtet und umfassend dokumentiert worden. In der Vergangenheit ist davon ausgegangen worden, dass diese gesundheitlichen Ungleichheiten in modernen Gesellschaften verschwinden würden, was sich allerdings nicht bestätigt hat.

Spätestens seit dem Black Report, der zu Beginn der 1980er-Jahre in Großbritannien publiziert wurde, gelangte die Frage der institutionalisierten und nicht zuletzt durch rassistische Erklärungen legitimierten gesundheitlichen Ungerechtigkeit ins öffentliche Bewusstsein und wurde zu einem Anliegen von Wissenschaft und Politik. Es zeigte sich, dass die  Chancen auf Bildung, Arbeit und Einkommen in direktem Zusammenhang mit dem Zugang zu gesundheitlicher Versorgung stehen. Im Zuge politischer und gesellschaftlicher Debatten sowie Empowerment-Bewegungen veränderte sich der Gesundheitsbegriff allmählich, indem Gesundheit nicht mehr als ausschließlich individuelle Leistung definiert wurde. Auch wenn Gesundheitsversorgung bis heute nicht in jeder Hinsicht und nicht für alle geregelt ist, gibt es ein zunehmendes Verständnis von Gesundheit als Grundrecht und soziale Leistung. Gleichwohl ist die Verfügbarkeit von Gesundheitsversorgung immer noch durch soziale Beziehungen sowie Produktions- und Einkommensverhältnisse stark reguliert.

So lassen sich in den letzten 30 Jahren auch in Europa Tendenzen beobachtetn, die beunruhigend sind. Dazu gehört die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, wie auch der Gesundheitsversorgung.  Der Zugang zum Gesundheitssystem wurde in vielen Ländern deutlich eingeschränkt oder die Budgets für Krankenhausbehandlungen, wurden drastisch gekürzt. Politisch werden diese Tendenzen, trotz zahlreicher Studien, die das belegen, kaum wahrgenommen. Für weltweites Interesse sorgte jedoch die 2005 von der WHO gegründete Kommission für Soziale Determinanten der Gesundheit (CSDH). Ihr Auftrag war es, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie  Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung weltweit verringert werden können, und was zu tun ist, damit weltweit diesbezügliche Fortschritte erreicht werden können. Ob die Erkenntnisse der CSDH von den einzelnen Ländern berücksichtigt werden, ist fraglich.

Zusätzlich zu der generellen sozialen Ungleichheit, erhöhen Migration und Flucht die Vulnerabilität von Menschen, indem sie mit ungünstigen Lebens- und Arbeitsbedingungen, sprachlichen und kulturellen Hürden sowie psychisch belastenden Ausgrenzungserfahrungen konfrontiert sind. Der Anpassungsdruck an eine neue Umgebung und der Verlust des familiären Umfelds haben Auswirkungen auf ihre physische und psychische Gesundheit. 

Umso wichtiger ist es, im Gesundheitsbereich Rahmenbedingungen zu etablieren, die auf die spezifischen Bedürfnisse dieser Menschen zugeschnitten sind. Dies bedeutet, das Gesundheitswesen transkulturell zu öffnen, diesbezügliche Kompetenzen in die Ausbildungskonzepte der sozialen- und Gesundheitsberufe aufzunehmen und niederschwellige Angebote zu entwickeln, die von allen Menschen in Anspruch genommen werden können, nicht zuletzt auch von Personen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus.



Hilfreiche Links

Medizindolmetscher in über 20 Sprachen Anamnesebögen, Therapiepläne u.v.m. mit Bildern
http://www.setzer-verlag.com

Bundeszentrale für politische Bildung

https://www.bpb.de/

Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V (BAfF e.V.)

Home - BAfF-Zentren

BLACK IN MEDICINE. Netzwerk Schwarzer Mediziner*innen

https://blackinmedicine.de/

Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT e.V.)

https://www.degpt.de/

Netzwerk Fluchtforschung

https://fluchtforschung.net/

Weiterführende Literatur

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